Interview mit Medine Yilmaz von Frauen für den Nahen Osten e.V.
Im Interview mit ihr haben wir vieles über die Arbeit und Struktur der Frauen für den Nahen Osten e.V. erfahren und über feministische Perspektivwechsel, insbesondere wenn es um die Situation von Frauen in Regionen des Nahen Ostens geht, gesprochen.
Das Interview führten Steffie und Natalie am 25.01.2021.
Inhaltswarnung: In diesem Interview wird von Fluchterfahrung, Fluchtgeschichte und Diskriminierungserfahrung mit Kopftuch berichtet.
Der Verein wurde 2016 gegründet und arbeitet ausschließlich ehrenamtlich. Es gibt ungefähr 80 Fördermitglieder und einen aktiven Vorstand, der, bestehend aus 4-5 Frauen, sehr aktiv ist und handlungsbefugt ist. Medine Yilmaz ist Konferenzdolmetscherin mit kurdischem Migrationshintergrund und war beruflich schon in vielen Konfliktregionen unterwegs, zum Beispiel während des Krieges im Irak und in anderen Ländern des Nahen Ostens.
Adresse: Frauen für den Nahen Osten e.V. Mörike Str. 3, 99096 Erfurt Telefon: 0163 364 913 2 E-Mail:info@ffdno.org
Natalie: Hallo Medine. Wir wollen mit ein paar grundlegenden Fragen zu eurem Verein beginnen: Kannst du kurz darüber sprechen, wie ihr euch zusammengefunden habt, welche Ideen und Ziele ihr dabei hattet und was der Bereich ist, in dem ihr arbeitet?
Medine: Als 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, habe ich mich ehrenamtlich engagiert und auch auf professioneller Ebene im Ministerium gearbeitet im Bereich Migration. Gleichwohl mir Verwaltungsarbeit nicht so sehr am Herzen liegt, wollte ich die entsprechenden Rahmenbedingungen mitgestalten, um das Ankommen der Geflüchteten hier zu erleichtern. Später habe ich mir die Frage gestellt: „Okay, was ist mit den Menschen, die es nicht schaffen, nach Deutschland zu fliehen? Wie können wir ihnen helfen?“. MEHR LESEN
Die Arbeit der meisten Entwicklungshilfeorganisationen sehe ich eher kritisch, oft sind sie in ihrer personellen Zusammensetzung sehr weiß und männlich geprägt, Angestellte mit Migrationshintergrund sind dort weniger vertreten. Der Ansatz der Entwicklungshilfe ist nicht so wie ich sie mir eigentlich wünsche oder vorstelle und deshalb hatte ich dann irgendwann die Idee selbst etwas zu machen. Dazu kam, dass ich mich auch darüber ärgerte, dass es im Nahen Osten so viele starke Frauen gibt, die sich aber durch die gesetzlichen und die kulturellen Rahmenbedingungen nicht verwirklichen können. Ich war damals schon gut vernetzt, mir fielen gleich einige Freund*innen ein, mit denen ich ein frauenbezogenes Projekt auf die Beine stellen wollte. Ich bin auf sie zugegangen mit einer Idee und daraus hat sich dann der Verein „Frauen für den Nahen Osten“ gegründet. Wenn wir darüber sprechen, dass der Nahe Osten, beziehungsweise diese Länder sich emanzipieren müssen, dann müssen sich erst die Frauen emanzipieren. Es bringt nichts an die Frauen im Nahen Osten heranzutreten unter dem Motto: “Hört mal, es gibt weltweit Menschenrechte und du hast auch als Frau deine Würde.“Wenn ich es nicht erstmal ermögliche, dass sie ihre Grundbedürfnisse, beispielsweise durch Zugang zu Trinkwasser und Nahrung, befriedigen können, oder eben ökonomisch auf den eigenen Beinen stehen, dann kann ich alles weitere auch nicht vermitteln. Unser Fokus ist dabei, gemeinsam mit den Frauen zu beraten, was sie gut können und sie darin zu unterstützen, sich zumindest wirtschaftlich zu emanzipieren. Wir denken, dass alles andere an #Emanzipation sich dann auf dieser Grundlage auch leichter entwickeln kann.
Als Migrantinnenorganisation ist es uns wichtig, dass wir Frauen im Verein sind, die auch Bezüge zu den Regionen haben, in denen wir aktiv werden. Und so gestaltet sich auch unser Aktivenkreis, es gibt Frauen, die schon in Syrien, in Marokko, in Jordanien, in Ägypten, im Iran oder in Afghanistan gelebt haben. Sie haben ein stärkeres #interkulturelles Verständnis, was wichtig ist für unsere Arbeit. Um diese Arbeit mal ganz beispielhaft zu erklären: Im Dezember 2021 haben wir eine Frau finanziell unterstützt, die eine Ausbildung als Chocolatier gemacht hat, sich aber die Zutaten nicht leisten konnte. Also eine ganz banale Sache. Wir haben ihr einen Startbetrag zugeschickt, sodass sie ihr Unternehmen auf die Beine stellen kann. Jetzt ist sie damit sehr erfolgreich. Schon zu Sylvester hatte sie Unmengen an Bestellungen für ihre Schokoladenprodukte. Und diese Frau ist jetzt sowas von selbstbewusst, dass ich dachte: „Die Frau, die ich vor 4 Monaten gesehen habe, ist jetzt eine ganz andere“.
Kulturell versuchen wir uns eher wenig einzumischen, denn dann würden die Männer nicht zulassen, dass wir ihre Frauen unterstützen. Sie lassen unsere Hilfe aber zu, wenn wir sagen: „Ihr habt finanzielle Nachteile und verdient kaum Geld, aber wir wollen euch helfen. Wir unterstützen aber nur Frauen und nicht Männer. Du als Mann kannst gerne deiner Frau helfen, aber es geht vorrangig bei unserer Unterstützung um deine Frau.“ Wenn wir direkt über #Frauenrechte, Hierarchien und ähnliches referieren würden, dann wäre es nicht so einfach. Auf diesem Weg zeigen wir den Männern auch folgendes: „Schau mal, du kannst deiner Frau vertrauen, sie schafft auch herausfordernde Sachen, nur bis jetzt hatte sie nicht die Möglichkeit dazu“.
Dabei ist es uns egal, ob das eine jüdische, muslimische oder christliche Frau ist oder welcher anderen Religion sie angehört. Egal welche Kultur oder Religion, alle haben ihre eigene Erfahrung mit #Diskriminierung und vor allem sind sie finanziell abhängig von ihren Männern. Selbst wenn es Frauen sind, die einen #Tschador tragen: Wir haben zum Beispiel einer Frau geholfen, die einen Tschador trägt und die jetzt richtig erfolgreich und beruflich eigenständig ist. Hauptsache ist für uns, die Frauen finden ihren eigenen Weg. Wir können nicht die Welt verändern, das wissen wir, aber wir können positiv Leben berühren. Aus feministischer Sicht möchte ich noch etwas ergänzen, bei dem ich mich selbst auch ertappe: Wenn wir über Ländern des Nahen Ostens sprechen, dann gibt es vor allem von Seiten weißer, deutscher oder europäischer Frauen mit ihrem ganz eigenen Bild der #Emanzipation und des #Feminismus eine Art Überlegenheit oder aber auch eine Irritation. Viele von ihnen kommen mit den Gegebenheiten vor Ort nicht klar und wollen radikale Veränderungen durchsetzen oder ihr eigenes Weltbild auf die Situationen dort projizieren. Ich war beispielsweise im Iran. Als mich die Frau, bei der ich wohnen sollte im Tschador abholte und ich nicht mal ihre Augen sehen konnte, habe ich erstmal geschluckt und dachte: „Oha, wo werde ich jetzt wohnen die nächsten zwei Tage? Das wird hart!“ Bei ihr zu Hause hat dann ihr Mann zwei, drei Tage lang nur gekocht, die Wohnung sauber gemacht und uns bedient. Ich war ziemlich überrascht und habe sie gefragt: „Wie kommt das? Du trägst den Tschador, aber hier läuft alles so anders, als ich es erwartet hätte!“ Sie hat geantwortet: „Ja schau mal, hier in dieser Wüstenstadt tragen alle Frauen einen Tschador. Wenn ich ihn jetzt nicht tragen würde, dann würde mir das mein Leben sehr erschweren“. Andere würden in ihr erstmal nur eine Frau mit Tschador sehen und sich erst gar nicht auf sie einlassen. Ich selbst ertappe mich, wie gesagt, ja auch dabei: Ich denke „Das muss ja jetzt nicht sein, dass die Männer und die Frauen getrennt sitzen und dass die Männer zuerst das Essen bekommen“. Aber wir sollten zunächst erstmal die Gründe für diese Situation zu erkennen und verstehen. Anstatt mit großen Forderungen an die Frauen heranzutreten, würde ich vielleicht eher sagen: „Ok, ich weiß, aus diesen Gründen ist das so, aber versuch es doch zumindest in deiner Familie mal zu ändern?“. Oder besser noch nicht mal irgendetwas zu sagen, sondern Unabhängigkeit und Emanzipation vorzuleben und es zuzulassen, dass die Frauen ihre Fragen dazu stellen können. Wir gehen zu oft als Europäer*innen von unseren ganz festen Vorstellungen zu Fairness und Selbstverwirklichung und unseren Erfahrungen aus. Natürlich sind wir dann irritiert und denken: “Oh Gott, was ist das denn?”. Und am Ende bin ich dann doch auch jedes Mal dankbar, wenn ich zurückkomme und sehe, dass ich einen Mann habe, der mir so viele Freiheiten lässt. Aber vielen feministischen Organisationen in Deutschland, auch hier in Thüringen, fehlt ein #interkulturelles und interreligiöses Verständnis der feministischen Fragen für andere Länder und Regionen der Welt.
Natalie: Das ist ein ganz spannender Punkt. Ich würde fast sagen, das ist eigentlich eine ganz wichtige Herausforderung, die aber wenig Thema ist.
Medine: Weil es ein unangenehmes Thema ist. Und dann sind wir doch untereinander sehr homogen. Mit Blick auf verschiedene feministische oder frauenpolitische Orte musste ich feststellen, dass der Erfahrungshintergrund ziemlich homogen ist. Migrantische Frauen sind dort nicht sehr aktiv. Klar, geflüchtete Frauen nehmen an solchen Orten auch die Beratung und Unterstützung bei bürokratischen Problemen wahr, aber der internationale und interreligiöse Austausch findet nicht sehr ausgeprägt statt.
Steffie: Das würde ich mir selber auch, ja vorwerfen? Wir hatten so eine Situation, sehr beispielhaft: wir saßen in der Runde vom Frauenkampftag und haben über unser Logo gestritten, weil dort eine Person mit Kopftuch abgebildet war. Wir haben darüber diskutiert und gestritten und wir waren alle weiß und nicht muslimisch.
Medine: Weil eben von den meisten Menschen automatisch mit dem Kopftuch Unterdrückung assoziiert wird. Dabei schließen sich #Feminismus und das Kopftuch nicht automatisch aus. Bei einer Verwandten von mir zum Beispiel ist das Kopftuch nur ein Symbol. Sie ist damit aufgewachsen und es macht ihr Spaß verschiedene Farben und Modelle auszuprobieren. Andere Frauen wiederum sagen: „Es ist auch feministisch, wenn ich mich dazu entscheide, ein Kopftuch zu tragen.“ MEHR LESEN
Wenn du von vornherein denkst, die Person ist unterdrückt, dann entsteht ja auch eine Hierarchie im Kopf zwischen dir und ihr. Du musst erst mal ohne Vorurteile, ohne Hintergründe eine Kommunikation auf Augenhöhe zulassen. Frauen mit Kopftuch fühlen diese Vorurteile und machen viele schlechte Erfahrungen, allen voran in Ostdeutschland. Meine Mutter hat vor einigen Jahren beschlossen, mich nicht mehr zu besuchen, weil sie jedes Mal #Diskriminierung aufgrund ihres Kopftuches erfahren hat. Sie möchte, dass ich sie in Berlin besuche. Denn auch in Thüringen ist das so und die hier lebenden Frauen fühlen diese Barrieren auch auf emotionaler Ebene. Sie wissen, dass die meisten feministischen Organisationen vom Kopftuch nichts halten und auch aus diesem Grund halten sie Distanz.
Steffie: Du hast ja auch gerade schon von starken Frauen erzählt, die ihr unterstützt. Gibt es Bewegungen oder Personen, die Vorbilder sind und bei denen ihr sagt, das ist so unsere Tradition von #Feminismus oder gibt es da Anknüpfungspunkte?
Medine: Wir unterstützen mehrheitlich Frauen, die sehr stark benachteiligt sind, von denen wir aber auch wissen, dass sie mit dem Geld, das sie bekommen, verantwortungsvoll umgehen können. Und ich sag es mal so, unser Ziel ist es nicht feministische Frauen zu unterstützen, sondern mit der gestärkten Selbständigkeit aus diesen Frauen Feministinnen zu machen.
Andere Frauen wiederum sagen: „Es ist auch feministisch, wenn ich mich dazu entscheide, ein Kopftuch zu tragen.“ Wenn du von vornherein denkst, die Person ist unterdrückt, dann entsteht ja auch eine Hierarchie im Kopf zwischen dir und ihr. Du musst erst mal ohne Vorurteile, ohne Hintergründe eine Kommunikation auf Augenhöhe zulassen.
Natalie: Was sind denn da die Entscheidungspunkte? Woran macht ihr das fest, dass ihr die eine Person unterstützt und die andere nicht?
Medine: Anhand von Interviews, die wir führen. Wir sprechen ja viele unterschiedliche Sprachen. Die Partnerorganisationen vermitteln uns die Frauen. Dann führen wir per Videozuschalte Interviews durch. Die Frauen, die uns überzeugen, unterstützen wir dann über die Partnerorganisation. MEHR LESEN
Wir überweisen der Partnerorganisation das Geld und sie begleiten bei der Gründung die Frauen vor Ort oder jemand unter uns fliegt in das jeweilige Land und begleitet den Prozess mit. Bei größeren Beträgen sind wir auf jeden Fall dabei, da wir unsere Spender*innen nicht enttäuschen möchten und genau wissen wollen, wie das Geld verausgabt wird. Einmal hatten wir die Situation, dass wir ein komisches Gefühl nach dem Interview hatten. Die Frau wollte ein Nähatelier und dafür das entsprechende Geld. Wir schickten einen Bekannten vor Ort hin und dieser teilte uns mit, dass sie bereits ein Atelier habe. Hier ist also auch Vorsicht gefragt. Am Ende hat aber dann Sawra, eine syrische Frau in Urfa die Förderung bekommen. Sie arbeitet bis heute erfolgreich und ernährt damit zwei Familien. Es geht uns im Projekt weniger darum, ob die Frauen feministisch sind, sondern ob sie es schaffen das Geschäft erfolgreich zu führen.
Manchmal ist es aber auch abhängig von den Partnerorganisationen, wie erfolgreich die Projekte wachsen. Auf unser folgendes Projekt im Sudan sind wir richtig, richtig stolz: Durch eine Medizinstudentin haben wir erfahren, dass sehr viele Frauen im Sudan im Gefängnis sind – weil sie zum Beispiel 50 € Schulden haben. Eine Medizinstudentin hat den inhaftierten Frauen Taschen nähen lassen und hat sie vor Ort in Khartum an wohlhabende Menschen verkauft. So konnten sich die Frauen selbst freikaufen. Aber sie kamen erneut in Schuldhaft, weil sie draußen keine Einnahmemöglichkeiten hatten. Nun einfach das Geld zu bezahlen und sie frei zu kaufen, ist nicht unbedingt die nachhaltigste Lösung, weil es sein kann, dass sie wieder wegen einer Kleinigkeit im Gefängnis landen. Mit der Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei haben wir mehrere Nähmaschinen gekauft und ein Atelier in Khartum gegründet, in dem Frauen arbeiten und nähen können. Die Thüringer Staatskanzlei hat auch hier für sudanesische Verhältnisse mit richtig viel Geld das Projekt unterstützt. Und dann kam etwas, dass wir so nicht geplant hatten: hoch professionelle Personen unterstützten die Frauen in Khartum und die Taschen sind so hochwertig und schick geworden, dass sie auf dem internationalen Markt mithalten könnten. Aber die Geschichte geht noch weiter! Es kam zur Corona-Pandemie und die GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Anmerkung durch Atalante.) hat zwischen 300.00 und 400.000 €, also sehr viel Geld, in das Atelier investiert. Die Frauen in diesem Atelier im Sudan haben sowohl für Sudan als auch für andere afrikanische Länder Mund-Nasenschutzmasken produziert. Den Prototyp für die Maske hat übrigens die Medizinstudentin vor Ort entwickelt. Insgesamt sind sehr viele Frauen aus dem Gefängnis frei gekommen und sind jetzt ökonomisch unabhängig.
Natalie: Was mich noch interessieren würde ist, was an deinem Engagement ist das, was dich am meisten nervt oder anstrengend ist? Ich glaube das, was das motivierende ist und was dir Freude macht, das hast du bereits erzählt, aber was ist es, was es euch schwer macht?
Medine: Also zum einen ist das die Bürokratie, klar. Zum anderen ist der Umgang mit Geld im Kontext von Entwicklungshilfe immer auch ein sensibles Thema. Wir haben manchmal verschiedene Perspektiven dazu, was ein realistischer Projektansatz ist und manchmal kann es auch passieren, dass wir enttäuscht sind, wenn sich ein Projekt nicht ganz so erfolgreich entwickelt. Manchmal müssen wir uns auch gegenseitig bremsen. MEHR LESEN
Nicht jedes Projekt, kann so einen großen Umfang haben, wie das Projekt im Sudan, denn das wäre irgendwann auch schwierig zu überschauen und zu kontrollieren, wobei das im Sudan ein Selbstläufer war und wir nur einen kleinen Stein zum Rollen gebracht haben und weniger in Geldfragen Verantwortung haben. Man darf nicht vergessen, wir machen das alles ehrenamtlich.
Manchmal kann es dennoch passieren, dass die Partnerorganisationen nicht verstehen, was wir mit unserem Projekt erreichen wollen. Als die Explosion im Libanon war, haben wir Kontakt zu einer Organisation vermittelt bekommen, die wirklich ehrlich das Geld verwenden und für in Reparaturen der Explosionsschäden investieren. Wir haben durch Speisenverkauf 3000 € gesammelt. Über 40 Frauen haben gebacken, gekocht und das Essen dann gegen Spende verkauft. Wir haben diese 3000 € in den Libanon gesendet und vor kurzem haben wir dann die Fotos bekommen von den Reparaturarbeiten. Wir hatten aber eher das Gefühl, die Organisation hat eine Galerie von vermögenden Menschen repariert, also es waren schon beeindruckende Fotos. Vielleicht haben wir hier auch eine übertriebene Wahrnehmung. Denn den Kontakt hat eine Erfurter Professorin, die vor Ort arbeitet hergestellt und das Geld war in vertraulichen Händen. Aber unser Ansatz wurde anscheinend falsch verstanden, es hätte wahrscheinlich andere bedürftigere Personen gegeben, die dringlicher Unterstützung gebraucht hätten.
Und klar sind auch uns die Hände gebunden, was die Akquise und Evaluation angeht, wenn wir nicht vor Ort sein können: In Syrien bräuchten derzeit die Frauen noch dringender Hilfe als beispielsweise die Frauen im Osten der Türkei. Aber wir können nicht nach Syrien reisen. Wir schicken den Organisationen Geld und im schlimmsten Fall können diese einfach irgendein Video aufnehmen und uns schicken. Am Ende können wir nicht 100% sicher sein, ob das Geld dann da auch da angekommen ist, wo es hinsollte. Selbst uns, die wir die Sprachen beherrschen und die ganzen Zugangsvoraussetzungen mitbringen, selbst uns fällt das nicht leicht. Das sind so verschiedene Herausforderungen für unseren Verein.
Natalie: Uns geht es ja allen so, wenn man sich mit #Feminismus oder auch einfach sozialer Gerechtigkeit beschäftigt und dabei neue Perspektiven kennenlernt, dass man sich ja selbst auch verändert und entwickelt. Kannst du einschätzen, wie sich über die letzten Jahrzehnte migrantische Gruppen oder generell die Frauenbewegung im Nahen Osten verändert haben und hat es euch auch irgendwie begleitet oder merkt ihr im Umgang mit unterschiedlichen Generationen einen Unterschied, wenn ihr mit älteren Frauen zusammen arbeitet oder mit jüngeren, was müsst ihr da beachten?
Medine: Also was Feminismus angeht, ist meine Familie ein gutes Beispiel. Mein Vater ist 1963 nach Berlin gekommen und meine Geschwister und ich wurden sehr streng erzogen. Mein Vater ist Imam gewesen und unser Haushalt war sehr konservativ. Als ich so 10 oder 11 Jahre alt war, musste ich bei den Männern anklopfen und das Teetablett so herein reichen, dass man mein Gesicht nicht sieht. Meine erste #Emanzipation war, als die linken Kurdinnen von der kurdischen Bewegung zu uns nach Hause gekommen sind, mit meinem Vater im Wohnzimmer saßen und gesagt haben: „Nein, deine Tochter soll bitte auch dazukommen und deine Frau auch. Wir wollen mit allen zusammen sitzen“. Das heißt, ich habe eigentlich durch diese Frauen zum ersten Mal Feminismus erfahren. MEHR LESEN
Hier in Europa ist es ansonsten recht bequem feministisch zu sein, weil es sehr viele gute Voraussetzungen beispielsweise gesetzlicher Art gibt. Natürlich haben dafür Frauen gekämpft, das will ich nicht klein reden, aber wir haben es hier heute doch recht bequem. In Ländern im Nahen Osten heißt Feministin zu sein, gleichzeitig bereit zu sein, dein Leben zu riskieren. Feministisch zu sein, heißt dort gleichzeitig bereit zu sein, Schläge zu kassieren. Feministisch sein bedeutet dort auch Kontakte zu reduzieren. Es gibt viele Leute dort, die zum Beispiel ihrem Bekanntenkreis sagen: „Ihr dürft zu dieser Frau keinen Kontakt haben, weil sie sehr freizügig ist“. Damit ist nichts anderes als ihre Emanzipation oder ihre feministische Haltung gemeint. Feministisch sein bedeutet auch, Gefahren auf der Straße zu begegnen. Also das ist Feminismus dort und ich habe sehr, sehr großen Respekt davor. Deshalb müssen wir Feminismus auch aus einer anderen Perspektive betrachten als der eigenen.
Wir müssen die Lebensbedingungen vor Ort sehen und verstehen wie die Frauen dort leben. Wir dürfen nicht denken, dass Frauen per se nicht feministisch sind, weil sie sich dazu entscheiden Hausfrauen zu sein oder das Kopftuch zu tragen. Wir müssen einfach bereit sein über Feminismus auch aus einer anderen Perspektive zu sprechen oder diese überhaupt zu betrachten und Feminismus mit Blick auf die jeweiligen Lebensbedingungen anders zu interpretieren und das auch zu akzeptieren. Ich glaube, dass migrantische Frauen mehr Diskriminierungserfahrungen machen, weil sie Migrantinnen sind, als weil sie Frauen sind oder weil sie nicht feministisch oder weil sie feministisch sind. Sie machen ja auch rassistische Erfahrungen in Deutschland. Das ist ein viel größeres Problem. Erstmal müssen sie dich ja als Mensch, als Person akzeptieren, bevor du überhaupt über Feminismus sprechen kannst.
In Ländern im Nahen Osten heißt Feministin zu sein, gleichzeitig bereit zu sein, dein Leben zu riskieren. Feministisch zu sein, heißt dort gleichzeitig bereit zu sein, Schläge zu kassieren. Feministisch sein bedeutet dort auch Kontakte zu reduzieren.
Steffi: Das wirkt ja dann auch zusammen. Es gibt ja zum Beispiel auch rassistische, stereotype Bilder von schwarzen Frauen, wo dann #Rassismus und Sexismus zusammenkommen, auch strukturelle gesellschaftliche Bedingungen angeht.
Medine: Ich glaube es war die Bundesintegrationsbeauftragte, die folgende Situation geschildert hat: Vier Personen bewerben sich um einen Ausbildungsplatz. Davon ist eine ein weißes deutsches Mädchen, einer ein weißer deutscher Junge, einer ein arabischer Junge und eine ist ein arabisches Mädchen. Bei der Bewerbung hat der weiße Junge mehr Chancen als das weiße Mädchen, an der dritten Stelle kommt der arabische Junge und an vierter Stelle das arabische Mädchen. Ich habe mir gedacht: „Und wenn das Mädchen auch noch schwarz ist und Kopftuch trägt, dann hat sie verloren“. MEHR LESEN
Wir dürfen dass nicht vergessen, Rassismus geht an die Substanz. Die Menschen kämpfen mehr gegen Rassismus als für #Feminismus, weil sie erst mal gesellschaftlich damit konfrontiert sind, ob sie wollen oder nicht. Dadurch sind sie gezwungen, etwas dagegen zu tun, bevor sie über ein Luxusthema wie Feminismus sprechen können. Obwohl es kein Luxusthema ist, aber anderes ist da erst mal wichtiger. In meinem Leben war es ähnlich: Wir sind eine kurdische Familie und ich bin im Wedding aufgewachsen. Wir haben in einem Viertel gelebt, das größtenteils türkisch geprägt war. Auf der Straße habe ich mich geschämt, wenn mein Vater mit uns kurdisch gesprochen hat, weil sie uns dann fertig gemacht haben. Im Supermarkt habe ich mich geschämt, weil er entweder türkisch oder kurdisch sprach und nicht deutsch, weil uns die Deutschen diskriminiert haben. Zu Hause wurde ich dann wiederum diskriminiert, weil ich eine Frau bin. Im Gegensatz zu meinen drei Brüdern durfte ich nicht bei meinen Freundinnen übernachten, nicht ausgehen, nicht schwimmen gehen und durfte keinen Freund haben. Alles was meine Brüder durften, durfte ich nicht. Und dann stellst du dir die Frage: „Wogegen kämpfe ich zuerst?“.
Natalie: Also ich hätte jetzt noch tausend weitere Fragen, die aber den Rahmen sprengen würden. Deshalb würde ich zum Abschluss noch fragen, ob es vielleicht für dich noch offene Punkte gibt, die du gerne noch über „Frauen für den Nahen Osten“ sagen möchtest, nach denen wir bisher gar nicht gefragt haben?
Medine: Ja ich habe schon noch einen Appell an alle Frauen: Es reicht nicht, nur Missstände anzusprechen. Wir müssen mit betroffenen Frauen, egal wo sie leben oder welchen kulturellen oder religiösen Hintergrund sie haben, Zeit verbringen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Dann können wir mit ihnen gemeinsam – interreligiös und #interkulturell – die Dinge ins Rollen bringen und auch voneinander lernen. Also mein Appell lautet: Geht auf sie zu, fragt nach und bekommt andere feministische Sichtweisen mit, weil das kann förderlich sein für beide Seiten. Und ich kann gerne die Koordination übernehmen für diese Art von Zusammenkommen. Es gibt ja auch den Dachverband der Migrantinnenorganisationen kurz DaMigra. Über ihn gibt es beispielsweise auch Möglichkeiten, mit migrantischen Frauen in Kontakt zu kommen. MEHR LESEN
Aber das allerwichtigste dabei ist – und auch da habe ich mich schon selbst dabei ertappt – man darf nicht mit der Einstellung an die Sache gehen: „So jetzt werde ich ihnen helfen und dann werden sie so sein wie ich es mir wünsche“. Das funktioniert nicht, das ist nur eine Illusion. Denn erstens: Was heißt super integriert? Und zweitens: Warum sollten sie sein wie du es dir wünschst? Aber das hat durchaus auch eine tiefere Verwurzelung in der ehrenamtlichen Tätigkeit an sich, also in so paternalistisches Fahrwasser zu kommen – da müssen wir alle mehr drauf achten und sensibel dafür sein.
Steffi: Vielen Dank für deine Zeit und deine spannenden Perspektiven und oft auch klaren Worte.
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